Bücher sind Punkte, Marksteine, Versprechungen und Atmosphären, die auf weiteres verweisen. Sie sind Gelesene, Ungelesene, Durchgeblätterte, Fordernde, Tröstende, Überraschende. Beat Furrer weiß um die Wichtigkeit des scharf gedachten, fein ausgewogenen, kühl gesetzten, brennenden und niedergeschriebenen Wortes. Sein Leben ist auch von Büchern gesäumt. Mit ihnen befragt er die Welt und begreift sie als Achsen einer Seinserfahrung; geographische erzählen von Indigenen im Nordwesten Brasiliens über die Traurigen Tropen bis hin zur Chinesischen Mauer; jene der Liebe von der Lasterhaftigkeit aus dem beschädigten Leben über Liebesgedichte der Renaissance bis hin zu den Briefen eines Liebenden; jene des philosophischen Denkens von Georges Bataille, Sören Kierkegaard, Ludwig Wittgenstein, Michel Foucault bis hin zu Giordano Bruno; jene des politischen Denkens vom Wächter des Imperiums bis hin zum Zeitalter des Überwachungskapitalismus; jene des Urliterarischen von wilden Herzen über die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen bis hin zu einem Buch der Unruhe.
Bibliothek
Beat Furrer
Beat Furrer und seine Bücher
Index
Nr | Verfasser:innen oder Herausgeber:innen | Titel | Ort | Verlag | Jahr | ISBN | |
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0012 | Adorno, Theodor W. | Berg | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1977 | 3518015753 | Beat Furrer Kommentar: Adorno ist noch immer wichtiger Begleiter. Gerade dort, wo seine große Liebe zu Mahler und der Wiener Schule zum Ausdruck kommt; dort wo er über Weberns lyrische Momente als „einatmen“ und „anhalten der Luft“, oder über Berg als „Meister des kleinsten Übergangs“ schreibt, oder in seiner beschreibenden Analyse von Mahlers 4. Symphonie zeigt, wie tief verbunden er der Wiener Schule war, oder vielmehr: wie ihm das Kunststück gelungen ist, das Wesen der Wiener Schule in Worte zu fassen. Die genannten Bücher gehören zu den größten Texten über große Kunst. |
0016 | Adorno, Theodor W. | Mahler | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1998 | Beat Furrer Kommentar: Adorno ist noch immer wichtiger Begleiter. Gerade dort, wo seine große Liebe zu Mahler und der Wiener Schule zum Ausdruck kommt; dort wo er über Weberns lyrische Momente als „einatmen“ und „anhalten der Luft“, oder über Berg als „Meister des kleinsten Übergangs“ schreibt, oder in seiner beschreibenden Analyse von Mahlers 4. Symphonie zeigt, wie tief verbunden er der Wiener Schule war, oder vielmehr: wie ihm das Kunststück gelungen ist, das Wesen der Wiener Schule in Worte zu fassen. Die genannten Bücher gehören zu den größten Texten über große Kunst. | |
0239 | Beckett, Samuel | Der Namenlose | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1979 | 3518370367 | Beat Furrer Kommentar: Für jeden Komponisten dürfte Beckett ein Mysterium sein: die Form der Erzählung, die Wiederholungen, die Veränderungen, wie die Erzählung vorangetrieben wird. All dies sind selbstverständlich auch kompositorische Fragestellungen. |
0241 | Beckett, Samuel | Molloy | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1982 | 3518367293 | Beat Furrer Kommentar: Für jeden Komponisten dürfte Beckett ein Mysterium sein: die Form der Erzählung, die Wiederholungen, die Veränderungen, wie die Erzählung vorangetrieben wird. All dies sind selbstverständlich auch kompositorische Fragestellungen. |
0262 | Benjamin, Walter | Denkbilder | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1974 | 3518014072 | Beat Furrer Kommentar: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Werke. Hg. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Band I/2, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 699.) |
0265 | Benjamin, Walter | Angelus Novus | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1988 | 3518380125 | Beat Furrer Kommentar: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Werke. Hg. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Band I/2, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 699.) |
0318 | Bloch, Ernst | Christliche Philosophie des Mittelalters: Philosophie der Renaissance | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1985 | 351809677X | Beat Furrer Kommentar: Die Leipziger Vorlesungen, insbesondere diejenigen über die Renaissance, haben meine große Faszination für die Vokalmusik dieser Epoche geleitet. Mit philosophischer Emphase spricht Bloch über Giordano Bruno, den „Minnesänger der Unendlichkeit“, wie er ihn genannt hat. Es war mir, als könnte mich Blochs Vorlesung in jene Zeit, mit ihrer unendlich reichen Vokalmusik, zurückversetzen. |
0320 | Bloch, Ernst | Geist der Utopie | Berlin | Suhrkamp | 1985 | 3518281526 |
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0431 | Büchner, Georg | Woyzeck. Leonce und Lena | Stuttgart | Reclam | 1993 | Beat Furrer Kommentar: In einem Brief an seine Braut Wilhelmine Jaeglé lässt Büchner den Automaten von Leonce und Lena heraustreten und beschreibt, wie ihm seine eigene Stimme fremd und mechanisch vorkommt, wie die Pfeifen einer Drehorgel – der Ausdruck einer Entfremdung in der aufkommenden Industriegesellschaft. „... ich erschrak vor mir selbst. (...) die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah – (...) das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter und weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt?“ (8.3.1834) | |
0469 | Campana, Dino | Orphische Gesänge / Canti Orfici | München; Wien | Hanser | 1995 | 3446180842 | Beat Furrer Kommentar: Dino Campana, obwohl Außenseiter, hatte mit seinem einzigen Werk Canti Orfici großen Einfluss auf die italienische Literatur seiner Zeit. Nach fünf Jahren vulkanischer Produktivität ist er verstummt. Der aufkommende Faschismus hat sein Verschwinden gefördert. Meine einzige italienische Oper La bianca notte erzählt von seinem Überlebenskampf als Künstler und von seinem Scheitern. |
0500 | Čechov, Anton | Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel | Zürich | Diogenes | 1999 | 3257202628 |
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0647 | Dostojewskij, Fjodor | Aufzeichnungen aus einem toten Haus | München | Hanser | 2020 | 9783446265738 | Beat Furrer Kommentar: Die Aufzeichnungen aus einem toten Haus sind nicht auf einen einzigen Handlungsstrang zurückzuführen. Es sind viele verschiedene Stränge, die um wesentliche moralische Themen geordnet sind – ein genial moderner dramaturgischer Entwurf, der mich auch in meinem musiktheatralischen Denken entscheidend beeinflusst und nichts an seiner Faszination verloren hat. Dass Leoš Janáček für seine letzte Oper diesen Roman als Vorlage für sein Libretto ausgewählt hat, macht mich heute noch staunen. |
0731 | Fanon, Frantz | Die Verdammten dieser Erde | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 2008 | 9783518371688 | Beat Furrer Kommentar: Dieselben Themen wie in Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft: Rassismus, Kolonialismus, Gewalt; Fanons Analyse des französischen Algerienkrieges lässt verstehen, wie Afrika durch die Verbrechen des Kolonialismus geprägt wurde und welche Folgen noch heute zu sehen sind. Mbembe bezieht sich immer wieder auf Fanon. |
0828 | Gallardo, Sara | Eisejuaz | Berlin | Wagenbach | 2017 | 9783803132857 | Beat Furrer Kommentar: Eisejuaz – Paqui: eine Beckett’sche Konstellation. Mit harter, rhythmisch prägnanter Sprache schafft Sara Gallardo Bilder einer postkolonialen Gesellschaft in der nordargentinischen Stadt Salta. Für Eisejuaz, der dort in einem Sägewerk arbeitet, sind Bäume und Tiere Personen, mit denen er ständig im Austausch steht. Paqui lässt sich bedienen und hat nichts als Verachtung übrig für diesen, wie er ihn nennt, „dreckigen Indio“. Gallardos auf einem Interview basierender Roman bringt mit erschütternder Klarheit zum Ausdruck, wie sehr unserem Verhältnis zum Anderen, sei es zur Natur oder zum Menschen anderer Kulturen, das Verhältnis des Eroberers zum Eroberten eingeschrieben ist.Das grosse Feuer, meine jüngste Oper, beschäftigt sich mit eben dieser Form kolonialer Gewalt. |
1295 | Koch-Grünberg, Theodor | Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest Brasiliens | Stuttgart | Strecker & Schröder Verlag | 1923 | Beat Furrer Kommentar: Der Anthropologe Koch-Grünberg, 1924 in Brasilien verstorben, erforschte südamerikanische indigene Völker noch vor Lévi-Strauss. Mit großem Respekt und tiefer Zuneigung beschreibt er Rituale, Gesänge, Instrumente, Sprache und vokale Ausdrucksweisen des Volkes der Pémon in Venezuela. Er beschreibt die Kunst und ihre Funktion in deren Zusammenleben. Wie bei Lévi-Strauss, so erscheint auch in seinem Werk der Schatten einer Wehmut über die beginnende Auslöschung dieser hoch entwickelten Zivilisationen und vergebene Chancen unserer Gesellschaft, sich mit ihnen auf Augenhöhe auszutauschen. | |
1390 | Latour, Bruno | Das Parlament der Dinge | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 2010 | 9783518295540 | Beat Furrer Kommentar: Auch die Werke des französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour waren wesentlich für meine Arbeit an Das grosse Feuer. Latours Denken trifft sich mit Eisejuaz, dem Indigenen in Nord-Argentinien insofern, als sie unserer Vorstellung, wir Menschen wären von kalkulierbaren Objekten – Natur – umgeben, widersprechen. Beide sind sich unserer Abhängigkeit von uns umgebendem Leben – Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere – bewusst und beide bringen die Kluft zweier grundverschiedener Weltentwürfe zum Ausdruck. |
1391 | Latour, Bruno | Wir sind nie modern gewesen | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 2013 | 9783518294611 | Beat Furrer Kommentar: Auch die Werke des französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour waren wesentlich für meine Arbeit an Das grosse Feuer. Latours Denken trifft sich mit Eisejuaz, dem Indigenen in Nord-Argentinien insofern, als sie unserer Vorstellung, wir Menschen wären von kalkulierbaren Objekten – Natur – umgeben, widersprechen. Beide sind sich unserer Abhängigkeit von uns umgebendem Leben – Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere – bewusst und beide bringen die Kluft zweier grundverschiedener Weltentwürfe zum Ausdruck. |
1433 | Lévi-Strauss, Claude | Traurige Tropen | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 2008 | 9783518585115 | Beat Furrer Kommentar: Claude Lévi-Strauss hat sich in den 1930er Jahren in den Tropenwäldern Brasiliens aufgehalten und ist 20 Jahre später dorthin zurückgekehrt. Er schreibt, dass er damals gesehen hätte, was es hätte heißen können Mensch zu sein, mit allen Implikationen eines freien, selbstbestimmten Lebens. Nun, schreibt er, 20 Jahre später, ist alles zerstört. Der Wald zerstört, die Bewohner des Waldes vertrieben, oder durch von Weißen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft. Dieser erschütternde Bericht des französischen Forschers und die Frage, warum eine menschliche Zivilisation nicht fähig ist, angemessen auf die Bedrohungen des Klimawandels zu reagieren, waren der Anfang meiner Beschäftigung mit der kolonialen Ausbeutung. |
1475 | Lukrez | De rerum natura / Welt aus Atomen | Stuttgart | Reclam | 1994 | 3150042577 | Beat Furrer Kommentar: In Hexametern geschrieben, ist es ein großes sprachliches Kunstwerk – beschreibend und immer wieder von großer Expressivität. Epikurs anti-mythischer Philosophie verpflichtet, beschreibt Lukrez optische und akustische Phänomene; er beschreibt Vulkanausbrüche und beschäftigt sich mit planetarischen Bewegungen, mit der Schwerkraft und vielem mehr – alles in einer wunderbar kraftvollen Sprache. Ich habe verschiedene Fragmente in meinen Werken verwendet, so zum Beispiel in Violetter Schnee oder in Spazio immergente I-III und in FAMA. |
1561 | Mayröcker, Friederike | Reise durch die Nacht | Frankfurt am Main | Suhrkamp | 1984 | 3518047000 | Beat Furrer Kommentar: Reise durch die Nacht ist ein Text, den mir Friederike Mayröcker in den 90er Jahren geschickt hatte. Diese unverkennbare Sprache, deren Leichtigkeit und Klarheit und Weite hatte mich begeistert. Es war bereits Musik. Es hatte noch einige Jahre gedauert, bis ich in einem kurzen Duo für Flöte und Stimme einen ersten Versuch gewagt hatte, mich dieser Sprach-Musik zu nähern. Daraus ist auf tönernen füssen entstanden. |
Publikation
Diese Dokumentation von Beat Furrers Bibliothek gibt es auch in gedruckter Form im Buch „Denkräume“, das Sie als Teil der Box FURRER 70 bestellen können. Ein Verzeichnis der vollständigen Erfassung seiner Literatursammlung geht einher mit persönlichen Kommentaren zu ausgewählten Büchern, die sein Leben bisher gesäumt haben.