Begehren 2
Begehren (2001/2003) Musiktheater für Solisten, Chor und Ensemble
Das konsonantische Zischen des Wortes ‚Schatten‘ mit all seinen semantischen Implikationen ist der Impulsgeber für die musikalische und dramaturgische Entwicklung von Begehren. In einer sich wiederholenden, sich ständig verschiebenden Matrix werden Klang und Bedeutung des Wortes aufgefächert und kontinuierlich verwandelt. Ihre pulsierende, atmende Bewegung aus dichten und zurückgenommenen Texturen, aus Geräuschklang und Gesangslinien überzieht das gesamte Musiktheater. Gesang, Sprechen und Instrumentalklang setzen einander fort, fallen sich ins Wort und lösen einander auf.
Das Libretto besteht aus mehreren Schichten, die von Furrer unter Mitarbeit von Christine Huber und Wolfgang Hofer aus Texten von Cesare Paveses Der Untröstliche (aus den Gesprächen mit Leuko, 1947), Günter Eichs Hörspiel Geh nicht nach El Kuhwehd! (1950), Ovids Metamorphosen (X. und XI. Buch, 1–8 n. Chr.), Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1945) und Vergils Georgica (IV. Buch, 37–29 v. Chr.) zusammengestellt wurden. Diese Textfragmente, die in je unterschiedlichen Konstellationen neue Querbezüge erscheinen lassen, öffnen den Orpheus-Mythos, ohne dass er nacherzählt wird. Furrer bewegt sich frei in und um ihn.
Zwei Stimmen (‚Sie‘ – gesungen von Sarah Aristidou, ‚Er‘ – gesprochen von Christoph Brunner) sind im Begriff sich zu trennen, sukzessive driften sie auseinander. Ihre Worte beschreiben begehrende Begegnungen und die Erinnerung an eine gescheiterte Liebe. Beide suchen einander, versuchen zu kommunizieren, drängen zueinander und doch entfernen sie sich voneinander. Immer wieder werden beide auf sich selbst und ihren eigenen Klang zurückgeworfen. ‚Er‘ blickt zurück, doch vermag er nicht ‚Sie‘ zu sehen, sondern nur seine Erinnerungen an sie. Sogar die Sprache trennt die beiden: ‚Sie‘ singt mit Vergil in Latein, während ‚Er‘ sich mit Pavese und Broch auf Deutsch ausdrückt. Der Chor, der mit deutschen und lateinischen Worten von Vergil und Ovid den Raum und die mythologische Welt des Musiktheaters erschafft, versucht zu vermitteln, steht jedoch auch für die gescheiterte Kommunikation zwischen den beiden und wirft lange Schatten auf sie. In diesen Schatten liegen auch die Gründe für ihre Trennung verborgen.
Im Verlauf des Stücks wird ‚Sie‘, die zunächst singt, zu einer Sprechenden. ‚Sie‘ legt ihre ursprüngliche Rolle als Eurydike ab und wird zu einer realen Person außerhalb der mythologischen Welt. Gegenläufig verwandelt sich ‚Er‘ vom Sprechenden zum Singenden, als ob er sich immer mehr daran erinnert, dass er einmal Orpheus war und nun wieder zu ihm wird. Seine Suche nach dem Gesang ist die Suche nach ‚Ihr‘.
In der siebten Szene kreuzen sich die Prozesse und beide Figuren treffen sich klanglich in ihren Atemgeräuschen und der deutschen Sprache. In diesem Moment findet ‚Sie‘ einen Weg, um zu sprechen: „Hörst du? / Ich kann zu Dir / Sprechen als wärst du hier“. ‚Ihm‘ jedoch kommt die Sprache abhanden. Am Ende steht ‚Sie‘ im Zentrum des Musiktheaters, isoliert, aber auch befreit von alten Bindungen, während von ‚Ihm‘ nun nur noch unterschiedliche Schattierungen von Atemgeräuschen übrig sind.
Synopsis
Szene I (Er, Sie, Chor) Aus dem Klang des ersten Wortes „Schatten“ entwickelt sich eine musikalische Textur aufsteigender Linien – Ovid beschreibt Orpheus’ und Eurydikes Aufstieg zum Licht. Orpheus’ Blick zurück markiert den Wendepunkt – dieser Moment wird in mehreren Wiederholungen eingefroren. ‚Er‘: „Dort in jenem Schimmer: das Leuchten war der Gesang und der Morgen. Ich wandte mich um“ (Pavese).
Szene II (Er, Chor) Ovid beschreibt Orpheus’ Kraft, die Mechanik der Unterwelt anzuhalten (Chor). ‚Er‘: „Ich suchte eine Vergangenheit wiederzuerlangen“ (Pavese).
Szene III (Er, Sie) Zwei Ausdrucksebenen stehen in dieser Szene nebeneinander: Während ‚Er‘ sich zu erinnern versucht – „Ich suchte, als ich klagte (…) nichts als mich selbst“ (Pavese) –, antwortet ‚Sie‘ mit Vergils Orpheus Text in melodischen Motiven. Sie passieren einander, ohne sich zu berühren. Zwischen ihnen liegen Welten, was auch durch die fremde Sprache Latein, in der ‚Sie’ sich ausdrückt, verdeutlicht wird.
Szene IV (Chor) Ein ausgedehnter Kommentar des Chores schließt an Vergils Erzählung an: „So rief sie, entschwand“ bezieht sich unmittelbar auf den Gesang der vorangegangenen Szene, wobei sich die Orpheus-Rufe des Chores an den abwesenden ‚Er‘ zu wenden scheinen.
Szene V (Er) Die um Stillstand und Vergessen kreisenden Worte Brochs werden von ‚Ihm‘ um persönliche Fragen und Bilder ergänzt. Atemklänge und ein stummer Schrei sind die ersten Anzeichen eines isolierten Ausdrucks jenseits der Sprache
Szene VI (Er, Sie, Chor) Sein Sprechen (Broch) und ihr Singen (Vergil) sind zwei räumlich isolierte Schichten: ‚Er‘ ist „nah“, ‚Sie‘ und der Chor (Ovid) sind „weit entfernt“. Die Instrumentalstimmen kommentieren in einem sprechenden Tonfall die Szene.
Szene VII (Er, Sie) ‚Sie‘ spricht nun deutsch und formuliert in Worten von Eich einen utopischen Horizont: „Hörst du? Ich kann zu dir sprechen, als wärst du hier“. Durch allmählich aufeinander Bezug nehmende Atemfiguren entsteht für kurze Zeit so etwas wie ein Dialog zwischen den beiden Figuren – die Möglichkeit einer Begegnung steht im Raum.
Szene VIII (Chor) Fragmente von Ovid über den Tod Orpheus’ werden vielschichtig entwickelt. Orpheus’ Kraft wird in dem Moment gebrochen, in dem der Lärm seinen Gesang übertönt.
Szene IX (Er, Sie) Die Ebenen des Singens und Sprechens sind nun nahezu ausgetauscht: ‚Sie‘ spricht gehaucht, während ‚Er‘ – der eigentlich abwesend ist – als Reaktion auf ihre Melodien kleine Motive nachsummt, so als würde er im nächsten Augenblick zu singen beginnen.
Szene X (Sie, Chor) ‚Sie‘ ist nun allein und wendet sich an ihn als ein abwesendes Gegenüber. Die ersten Worte der Szene „Hörst du?“ spannen dabei nochmals einen Bogen über das gesamte Werk, führen aber dann in ihr Inneres. Sprechen, zeitlupenartiges Abtasten der einzelnen Worte, einzelne gesungene Töne und zerrissene Motive fächern sich wie verschiedene Bewusstseinsebenen auf und werden nuanciert vom Chor schattiert – am Ende steht das Ungewisse.