Wie Klangkultur entsteht – Andreas Karl im Gespräch mit Musiker:innen des Klangforum Wien
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Oper – eine offene Kunstform
Beat Furrer
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Ein Gespräch
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Wie Klangkultur entsteht
– Andreas Karl im Gespräch mit Musiker:innen des Klangforum Wien
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Oper – eine offene Kunstform
Beat Furrer und sein Sprechen
Ein Gespräch mit drei Gründungsmitgliedern des Klangforum Wien und Beat Furrer selbst zeichnet den Weg nach, mit dem dieses Ensemble aus den Bedürfnissen einer spezifischen Komponist:innengeneration heraus Maßstäbe einer kompromisslosen Erarbeitung neuer Musiksprachen definiert und gesetzt hat. Es ist gleichzeitig auch ein Nachdenken darüber, wie sich das Neue in der Musik und derer Interpretation in den vergangenen vier Jahrzehnten weiter entwickelt und verändert hat, aber auch darüber, wie die Form eines basisdemokratisch agierenden Ensembles Begriffe der Kompromisslosigkeit, des Enthusiasmus und der künstlerisch rücksichtslosen Selbsteinbringung ermöglicht.
Film
Ein Gespräch
In einem ausführlichen Gespräch mit Gründungsmitgliedern des Klangforum Wien wird die langjährige Zusammenarbeit mit dem Ensemble aufgefächert und Furrers Haltung als Komponist greifbar.
Interview
Wie Klangkultur entsteht. Musiker:innen des Klangforum Wien im Gespräch mit Andreas Karl
Klang und Sprache
Andreas Karl Beat Furrer und das Klangforum haben eine fast vierzigjährige gemeinsame Geschichte. Ihr habt beinahe alle seine Ensemble- und Kammermusik gespielt, viele Stücke wurden für euch geschrieben und von euch uraufgeführt. Wie zeigt sich diese Beziehung in eurem Klang und eurer Art Musik zu machen?
Gerald Preinfalk Wenn junge Menschen ein Ensemble gründen, dann muss in erster Linie die Musik stimmen. Hat man eine gemeinsame ästhetische Vision, dann klappt auch die Zusammenarbeit im Ensemble. Beat hatte diese Vision und er hat dafür gekämpft, dass sie möglich wurde. Wir haben das mitgetragen und haben so mit ihm auch seine musikalische Sprache sprechen gelernt. Er hat unseren Ensembleklang geprägt wie kaum ein anderer Komponist. Für mich etwa das äußerst leise Spielen oder das ‚Färbeln‘ – das gemeinsame, gestalterische Arbeiten an einer Klangfarbe. So gesehen sind wir alle Kinder von Beat. Auch wenn wir mittlerweile viel andere Musik gespielt haben, die unseren Klang genauso beeinflusst hat.
Björn Wilker Umgekehrt hat das Klangforum auch Beats Sprache stark beeinflusst. Wir haben seine Sprache durch unsere zum Leben erweckt. So wie er Teil unseres Klangs geworden ist, so sind wir Teil seiner Musik geworden.
Dimitrios Polisoidis Anfang der 90er Jahre waren wir alle jung und haben neue Ideen, Techniken, Formen, Klänge richtiggehend aufgesaugt. Unser Zugang zu zeitgenössischer Musik wurde in diesen Jahren nachhaltig geprägt.
Björn Wilkerà un moment de terre perdue war das erste Ensemblestück von Beat, das ich mit dem Klangforum gespielt habe. Es hat unseren Klang entscheidend geprägt. In meiner Stimme fällt der markante Reibstock auf, die Marimba, einige wenige laute Akzente. Das Stück hört in die Stille hinein und lässt sie zu. Es atmet einen großen Bogen, es ist frei von allem außer sich selbst: keine anderen Medien, keine Samples. Es ist beeindruckend, wie sehr es seine Frische und ästhetische Relevanz bis heute bewahrt hat.
Olivier Vivarès Beats Musik hat eine extreme Intensität und Fragilität zugleich. Sie steckt voller Widersprüche. Darum bleibt sie ästhetisch aufregend, relevant. Diesen Ton haben wir in unsere Klangkultur aufgesogen.
Gerald Preinfalk Beat hat ein klar abgestecktes Vokabular, das sich über Jahrzehnte herauskristallisiert hat und trotzdem immer frisch bleibt. Natürlich gibt es darin auch Einflüsse anderer Komponisten, aber jedes Stück spricht immer ganz klar seine Sprache. Und diese Sprache hat ihr unverkennbares ‚fleischiges‘ Material. Musikalisch gesehen ist da enorm viel Substanz vorhanden.
Olivier Vivarès Ja, man erkennt dieses Vokabular immer sofort. Darin aber erneuert sich die Musik immer und immer wieder. Dieses ‚Neue‘ ist bei ihm oft von Literatur oder Malerei inspiriert: ein feines Arbeiten mit Texturen und am Klang und deren Verhältnis zum großen Ganzen.
Andreas Karl Wie habt ihr die Entwicklung seiner Musik über die Jahre eurer Zusammenarbeit hinweg wahrgenommen? Wo seht ihr heute Brüche, wo Kontinuitäten?
Annette Bik Sein Verhältnis zur menschlichen Stimme und wie er für sie schreibt hat sich ganz grundlegend weiterentwickelt und verfeinert. Die Stimme und die Sprache sind ihm immer wichtiger geworden. Aus dem Grenzland, das zwischen Sprechen und Singen liegt, hat er ganze musikalische Welten geschöpft. In Begehren kann man das Szene für Szene ganz unmittelbar miterleben. Seine Instrumentalmusik ist singender, sprechender geworden – murmelnde Umspielungen, wortähnliche Figuren. Und seine Musik ist ganz allgemein viel farbenprächtiger geworden.
Olivier Vivarès In Wüstenbuch, bzw. den Xenos Stücken hat er aus der gesprochenen Sprache heraus etwas ganz Neues geschaffen – diese fragmentierten, abrupten Figuren, die wie Wörter zu phrasieren sind.
Björn Wilker Es gab einige große, signifikante Wendepunkte in seiner Entwicklung. Nuun etwa, mit seinen übereinander gelagerten Schichten, repetitiven Mustern, virtuos mechanischer Motorik und einer ganz neuen rhythmischen Komplexität.
Andreas Lindenbaum Ja, mit Nuun und still hat er etwas ganz Neues erreicht, das er dann über mehrere Jahre hinweg verfeinert hat. Ich denke, dass diese Klangvorstellung aus den Umspielungen von à un moment de terre perdue herrühren.
Björn Wilker Auch in Nuun hat er wieder ‚seine‘ Inseln der Stille geschaffen. Dieses einzigartige Gespür für Stille, das ich vorhin schon erwähnt habe, ist ihm bis heute geblieben.
Benedikt Leitner Ich würde sagen, dass seine Stille heute noch spannungsgeladener ist als früher. Es passiert viel in dieser Stille.
Gunde Jäch-Micko In meiner Wahrnehmung sind bei Beat alle Entwicklungen unmittelbar verbunden, so wie ein Mensch sich in einem Fluss entwickelt – die großen ästhetischen Entwicklungen, aber auch die in den Stücken: Die sich auftürmenden Höhepunkte, die dann abrupt abreißen, sich wiederholende kleine Kreisbewegungen, dieser Fokus auf die Atmung, die Stille. Deren Gestalten ändern sich fortwährend, sind aber in fast allen Werken beobachtbar. Auch findet er seine eigenen alten Stücke nie langweilig; mit allen hat er eine sehr intensive Verbindung. Das ist selten, spricht aber für diese konsequente Entwicklung bei ihm.
Vera Fischer cold and calm and moving aus den 90ern jetzt aufzunehmen war eine Überraschung für mich. Wie er schon damals mit so wenigen Tönen diesen Tiefgang, diesen Gehalt und diese emotionale Kraft in der Musikzu erreichen wusste.
Andreas Lindenbaum Das haben die Aufnahmen jetzt wieder sehr deutlich gemacht. Man sieht die Qualität seiner frühen Stücke und kann sie gemeinsam mit den neuen Werken als eine verschlungene Geschichte von Form und Material-Entwicklung erleben. Man kann vieles in ihnen entdecken, das in anderer Form später wieder auftaucht.
Benedikt Leitner Etwa dieses sehnsuchtsvolle Ziehen, das schon in Gaspra und Retour an Dich da war, ist in den letzten Stücken aber noch stärker geworden. Er kann es nun genauer formulieren, aber es war immer irgendwie da.
Gunde Jäch-Micko Absolut. Zu Beginn von intorno al bianco, gleiten wir Streicher ganz langsam zu einem Akkord, und in dem Moment, da wir ihn erreicht haben, ist er schon wieder verschwunden. Diese suspendierte Steigerung, dieses Ziehen, wie du sagst; die Musik badet förmlich darin. Das Verhinderte, das Sehnsuchtsvolle, es ist nie ganz da, er lässt immer etwas übrig – für uns als Interpret:innen und als Hörer:innen. In dieser Hinsicht ist seine Musik sehr zugänglich.
Vera Fischer Ich nehme in den Stücken der letzten Jahre eine auch sehr zielgerichtete harmonische Reise wahr. Die intensiviert dieses Gefühl.
Benedikt Leitner Ja, diese dramatische Spannung, diese Reibung ist zuletzt immer mehr in die Harmonik gewandert. In intorno al bianco sind die Grundtöne wie Phantome. Wir Streicher klettern, gleiten in kleinsten Schritten sukzessive in ganzhohe Obertonakkorde und dort spürt man den Boden unterden Füßen kaum mehr. Das erzeugt einen instabilen, suchend-ziehenden Zustand. Ich genieße das sehr.
Sog und Sehnsucht
Andreas Karl Dieses sehnsuchtsvolle Ziehen, dieser Sog, steckt im Detail und auch in der Form seiner Stücke – in der Art wie er Material sukzessive in eine andere Gestalt verwandelt, es sich spiralförmig ausdehnen oder es nach oben streben lässt. Wie erlebt ihr diese Formen?
Dimitrios Polisoidis Im Konzert konzentrieren wir uns sehr auf die Details. Was den großen Bogen seiner Stücke betrifft, da kann man sich sehr auf seine Form und sein Strukturgefühl verlassen. Das hat er auskomponiert.
Vera Fischer Ich kann auch in seiner dichtesten und bewegtesten Musik, in der man als Musikerin extrem gefordert ist, wenn man gleichzeitig die Griffe, die Zunge und das Überblasen steuert, immer dennoch dieses Gefühl der Sehnsucht spüren – es ist eben mehr als nur der Fokus auf den Ton. Detail und Formverschmelzen. Dieses Sehnsuchtsgefühl gibt es auch nach dem Konzert. Man fühlt sich beseelt. Das kann nur richtig gute Musik.
Andreas Lindenbaum Die eigentliche Form wird erst in der Konzertsituation richtig realisiert – mit dem Publikum und eben jener Anspannung und Konzentration, die Konzerte so lebendig machen. In den Proben ist sie oft fragmentiert.
Benedikt Leitner Als Musiker ist diese Beziehung zwischen Form und Moment immer eine dialektische – und sie kann auch immer anders sein. Es gibt bei Beat nicht die ‚eine‘ Art seine Stück zu spielen. Auch wenn er seine Musik immer genauer ausnotiert, bleibt ihr dennoch diese Rest-Offenheit, von der Gunde schon gesprochen hat.
Dimitrios Polisoidis Diese Offenheit kommt von seinen frühen Stücken her, die von seinem Lehrer Roman Haubenstock-Ramati und dessen Mobile-Form inspiriert waren. Es gab bei Beat oft einzelne Stimmen, die vom Ensemble unabhängig, in freiem Tempo zu spielen waren. Zum Beispiel auch in à un moment de terre perdue. Aber seine Form ist über die Jahre immer klarer und fester geworden. Für seine Musiktheaterwerke hat er neue, größer geatmete Dramaturgien und einen Ausdruck entwickelt, die auch immer mehr in seine Instrumentalmusik gewandert sind.
Notation und Interpretation
Andreas Karl Ihr habt euch in eurer Arbeit intensiv mit Beats Notation und seinen bildlich-poetischen Spielanweisungen beschäftigt. Wie nehmt ihr diese heute wahr?
Gunde Jäch-Micko Er notiert heute viel genauer als in den 90ern. Früher hieß es etwa „pizzicato so hoch als möglich“, in den neuen Stücken aber sind es exakt ausnotierte Töne. Damals war das alles eine Riesenherausforderung. Aber wir sind in den Jahren nicht nur ästhetisch und sprachlich mit seiner und anderer Musik gewachsen, sondern auch technisch viel besser geworden.
Andreas Lindenbaum Es sind auch viele neue Ausdrucksweisen hinzugekommen – und Angaben, wie diese umzusetzen sind.
Benedikt Leitner Bei den ersten Stücken waren wir alle jung. Wir haben gemeinsam mit Beat an Lösungen gesucht, haben Akkorde umgeschichtet. Das war ein langer Prozess, in dem für uns als Ensemble und für ihn als Komponist sukzessive vieles klarer geworden ist. Wie man etwa seine sehr spezifischen Klangvorstellungen notiert: die Glissandi, Flageoletts, dieses ‚Hinaufkrabbeln‘ auf einem Ton. Wenn wir heute zusammenarbeiten, geht es viel mehr darum, wie wir diese Klänge im Ensemble dynamisch und farblich aufgehen lassen – es ist alles viel präziser geworden. Die bewusst von ihm freigestellten Grauzonen füllen wir mit Stimmung, mit Energie, mit Farben auf. Dort arbeiten wir an unserer gemeinsamen Interpretation. Da ist Platz für unseren Klang, für uns als Ensemble und individuelle Musiker. Das zeichnet seine Stücke und ihn als Komponisten aus.
Vera Fischer Gerade bei den Luftklängen in der Flöte. Da gibt es so viele Möglichkeiten– technisch, aber auch farblich.
Dimitrios Polisoidis Nach den Erfolgen mit dem Klangforum haben auch andere Ensembles begonnen seine Musik zu spielen. Ensembles, die ihn und seine Sprache nicht so gut kannten. Das braucht eine exakte, verständliche Notation. Aber die Notation hat Grenzen – sie kann eine gemeinsam entwickelte Klangkultur und eine über Jahre gelernte musikalische Sprache nicht einfach so ersetzen oder universal zugänglich machen.
Probe und Konzert
Andreas Karl Ihr seid nicht nur dem Komponisten Beat Furrer eng verbunden, sondern auch dem Dirigenten. Wie habt ihr jetzt die gemeinsamen Proben und Aufnahmen seiner Musik erlebt?
Gerald Preinfalk Er spürt und kennt seine eigene Musik extrem gut. Er weiß genau, was in dem Moment der Aufführung richtig ist, und derart gestaltet er Tempi, Pausen und Dynamik. Er verkörpert seine Musik; wie er sich bewegt, wie er spricht, wie er dirigiert, all das ist wie seine Musik. In mia vita da vuolp empfinde ich als eine Verlängerung seines Sprechens in die Musik. Er hört alles extrem genau – jedes Luftgeräusch, jede Klappe, jede Tonhöhe.
Vera Fischer Es ist absolut hilfreich, ihn bei den Proben und im Konzert als Person zu spüren und seine Mimik wahrzunehmen. Er illustriert seine Musik für mich. Das ist total inspirierend.
Dimitrios Polisoidis Es gibt bei ihm diese einzigartige Übereinstimmung mit dem, wer er ist und was er macht. Der Charakter seines Wesens und der seiner Musik sind ident. Das gilt übrigens auch für das Schriftbild seiner Notation. Bei vielen seiner früheren Stücke sind die Partituren als Faksimile seiner Reinschrift verlegt.
Björn Wilker Er kann seine Musik, den Ausdruck, den er sucht, sehr gut in Sprache fassen. Oft kann er in nur einem Bild, einem Vergleich die Essenz der Musik versprachlichen. Auch kann er seine Musik sehr gut vormachen – singen, summen, klopfen.
Vera Fischer Das gilt übrigens auch umgekehrt. Seine Musik erklärt auch ihn.
Annette Bik Manche Stellen werden dramaturgisch bzw. formal oft erst durch Beats Erklärungen und Vergleiche greifbar. Und er ist darin über die Jahre hinweg noch viel präziser geworden.
Dimitrios Polisoidis Auch wie wichtig ihm der Klang der gesungenen oder gesprochenen Texte und dessen immanente Theatralik ist. Und wie die Texte auch immer die Form der Stücke bedingen, egal welche Sprache – da arbeitet er wie ein Regisseur. In seiner Musik ist schon viel Drama; man muss nichts mehr extra hinzugeben.
Andreas Lindenbaum Genau diese dramatische Spannung herrscht auch in seinem Körper, wenn er dirigiert.
Annette Bik Seine linke Hand ist so sehr unter Spannung – jede kleinste Nuance wird dort angezeigt.
Gunde Jäch-Micko Aber diese Spannung ist durchlässig – sie bindet uns ein. Bestimmte Qualitäten in seinem Klang sind fast nur mit ihm als Dirigent möglich. Er hat eine besondere Fähigkeit diese mit uns gemeinsam aus dem Stück ‚herauszuholen‘.
Vera Fischer Wenn er seine Musik dirigiert, klingt sie anders.
Olivier Vivarès In seiner Musik zählt jedes Detail. Wenn die da sind, beginnt das Stück so richtig zu atmen und wir können Tempi flexibler gestalten und in die Interpretation eintauchen. In den Proben nehmen wir uns gegenseitig sehr ernst. So können wir klar sehen, was es klanglich, dynamisch, im Tempo und im Ausdruck zu erreichen gilt und dann finden wir gemeinsam mit ihm die Mittel dieses Ziel zu erreichen.
Essay
Oper – offene Kunstform
Beat Furrer
Eine historische Perspektive auf die menschliche Stimme in der Oper offenbart uns eine Entwicklung der Idee des „Mensch“-Seins durch die Jahrhunderte. Von allegorischen oder mythischen – von Monteverdi zu Mozart zu Rossini zu Wagner und Berg und Janáček, um nur einige Wendepunkte zu erwähnen – zu zeitgenössischen Figuren erzählt die menschliche Stimme selbst. Über die Sprache des Librettos hinaus ruft sie uns an, mit einer erschütternden Unmittelbarkeit erzählt sie von der conditio humana.
Sie offenbart uns ihre Wirklichkeit und verbindet diese mit der unseren, spricht von ihrem Schmerz, von ihrem Glück, von ihrer Angst und findet in uns, dem Zuhörer selbst, Resonanz. Sie erzählt, über den semantischen Gehalt ihrer Sprache hinaus, mit ihrer Stimme über mehr noch, tiefer Verborgenes. Die repräsentierte Figur verschwindet sozusagen hinter der Wirklichkeit ihrer Stimme.
„Was noch nicht gesagt werden kann, kann vielleicht schon gesungen werden“, beschreibt das utopische Potenzial im Gesang der Oper. Der Nachsatz von Heiner Müller lautet allerdings: „Aber wenn alles gesagt ist, wird die Stimme süßlich“, will heißen, sie erstarrt in Schönheit, wird floskelhaft rhetorisch.
Die großen gelungenen Momente einer Opernaufführung sind weder verfügbar noch konservierbar; immer verbunden mit dem Risiko des Scheiterns. Es sind jene Momente, in denen Szene, Text und Musik in einem subtilen Gleichgewicht sich ergänzen und einen neuen Raum erschaffen. Ohne erklärende Verdoppelungen erzählt die Stimme selbst, wird sie vom Zuhörer unmittelbar aufgenommen. Dieser macht die Erzählung zu seiner eigenen. Ob ich die Augen schließe oder nicht, ob ich das Libretto kenne oder nicht, es fesselt und beseelt mich weit über das diskursive Verstehen hinaus. Mein Körper singt in seinem Inneren mit und tritt mit dem Anderen in ein Verhältnis der Resonanz.
Der Klang der Stimme erst konstituiert die Figur des Protagonisten. „Alle Oper ist Orpheus“: Alle Oper ist Überschreitung. Wie die Oper Grenzen der beteiligten Genres – Szene, Wort, Musik – überschreitet, so überschreitet die Stimme die Grenzen der repräsentierten Figur. Die orphische Überschreitung ist die Überschreitung der Grenze zum radikal Anderen: zur Unterwelt, zum Tod. Er ist die antike Figur der Vermittlung zwischen Mensch und Natur.
Und dennoch: Es gibt kaum eine Kunstgattung, die heute dermaßen mit Vorurteilen und festen Meinungen verbarrikadiert ist und somit für viele Menschen ein Sicheinlassen verhindert oder erschwert, wie es bei Oper der Fall ist.
Von wessen Oper spreche ich? Von der in Schönheit erstarrten musealen Institution, die nur noch einen kleinen Rest dieser wunderbaren Tradition verwaltet und im Begriff ist, auch diesen durch Ideenlosigkeit, Ignoranz und fehlendes Bewusstsein einer gesellschaftlichen Verantwortung verkümmern zu lassen? Nein, von den Möglichkeiten, die eben diese Institutionen in Verbindung mit kreativen Kräften für eine Gesellschaft bieten, und von jenen Opernhäusern, die das erkannt haben. Und dabei geht es nicht lediglich um die Musik oder das Theater. Es geht ums Ganze.
Die vokale Kultur soll sich weiterentwickeln können! Sonst wird auch die große Tradition austrocknen. Es muss das Medium Oper nach seinen Möglichkeiten für eine Zukunft „befragt“ werden, es müssen neue Formen der Erzählung gefunden werden, es muss Neues kreiert werden – nur so kann die Tradition ins Heute sich öffnen und als lebendiges kulturelles Gedächtnis weiterleben.
Gerade heute, in einer digitalisierten Welt beispielloser Veränderungen, radikaler Zerstörungen sozialer Strukturen und der Natur – unserer eigenen Lebensgrundlagen –, finden wir uns stumm staunend, unserer Handlungsfähigkeit beraubt, zu Zuschauern degradiert. Gerade heute brauchen wir die Kunst, die Oper, brauchen wir den Freiraum und eine neue Sprache, um zu begreifen, was uns geschieht. Wir brauchen eine neue Ästhetik, eine lebendige zeitgenössische Kunst, verbunden mit den großen Traditionen, zum Heute hin geöffnet.
Die Spielpläne der Häuser sind immer mehr geschrumpft auf die großen „Hits“ der Operngeschichte, wobei die extrem reiche, noch offene, frühe Geschichte der Oper und das zeitgenössische Schaffen fast zur Gänze ausgeblendet werden. Es braucht politischen Willen, Mut und Weitsicht und die Erkenntnis der Dringlichkeit, die Institutionen bei Veränderungen zu unterstützen und zu deren Rechtfertigung nicht lediglich Auslastungszahlen zu verlangen, sondern auch die Frage zu stellen, ob in diesen Institutionen auch wirklich Kunst produziert wird. Eine Kunst als offener Raum in den Mauern der Notwendigkeit, vermeintlicher Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen, eine Kunst, die uns als Spiegel Erkenntnis und Erfahrung von Wirklichkeit bedeutet – Wirklichkeit, im Gegensatz zu einem digitalen Paralleluniversum.
Oper als offene Kunstform, als Kunstform ins Offene.
Nacktheit der Stimme: FAMA
„Tag und Nacht ist es offen, ganz aus tönendem Erz, es hallt und erwidert Laute, das Gehörte verdoppelnd. Nirgends ist Stille, nur raunende Stimmen, Gemurmel, wie von den Wellen des Meeres, wie verhallender Donner. Fama selbst hört was irgend im Himmel, im Meer, oder auf Erden geschieht ...“ (Ovid, Metamorphosen, 12. Buch)
Alles ist da. Eine Stimme spricht. Gleich einem Film-Zoom auf das Gesicht der Protagonistin, wird in FAMA das Verhältnis zwischen Orchester und Stimme so verwandelt, dass nach einem dichten, energiegeladenen Chor-Orchester-Klang der 1. Szene das Instrumentarium sich nach und nach um das Publikum gruppiert, um sich schließlich „in der Totalen“ (Szene 6) – auf die Kontrabassflöte reduziert – auf die Stimme selbst zu fokussieren. Das Orchester wird zum Resonanzraum, zur Verlängerung des Kehlkopfes. Das Haus der Fama, Ausgangspunkt der Erzählung, wird zum Innenraum der Protagonistin. Hier wird die Stimme in ihrer Intimität und Verletzlichkeit wahrnehmbar.
Szene 3 ist eine virtuose Sprecharie: In einem Schwall von Worten, wild assoziierenden, sprunghaften Gedanken, setzt sich diese Figur zusammen. Es sind Beobachtungen, Ahnungen, Wünsche, Projektionen, Träume, Ängste, die sie zunächst in spielerisch-koketten Kaskaden artikuliert und die am Ende dann – im Bewusstsein ihrer ausweglosen Situation – in Verzweiflung münden. In Szene 3 ist der Instrumentalklang mit dem Klang der Sprechstimme eng verwoben: Er wird zum Resonanzraum ihrer Sprache. Die Instrumente scheinen ihre Worte weiterzutragen, zu verstärken, zu verzerren, oder aber in ein Geflecht von anderen Stimmen einzufügen.
Dann Dunkelheit.
Nach Szene 4, einer Chor-Insel, hat die Stimme in Szene 5 scheinbar ihren Körper verloren. Sie spricht durch einen Trichter, den sie über das Publikum lenkt, von einem Traum. In der darauffolgenden Szene 6 fällt wieder helles Licht auf die Protagonistin. Sie steht vor dem Spiegel: „Wie seltsam meine Stimme klingt, bin das ich, die da redet? Ich habe jetzt gewiss auch ein ganz anderes Gesicht als sonst.“ Stimme – Identität: In diesem Moment repräsentiert die Schauspielerin nichts (keine Fräulein Else) als sich selbst – die Stimme der Schauspielerin.
Szene 7 ist ein riesiges Crescendo, das in Rauschen mündet: das Rauschen im Haus der Fama. Danach spricht eine fremde Stimme, das Orchester, nun hinter dem Publikum platziert. Wie aus einer anderen Welt.
Theater der Stimmen: Wüstenbuch
Die Form von Wüstenbuch artikuliert sich durch den Wechsel der Verhältnisse von Stimme und Orchester, von Szene zu Szene.
Ein Theater der inneren Stimmen, wie Ingeborg Bachmanns Visionen und poetische Visitationen durch die (geistigen) Wüsten in uns. Das distortierte Tagebuch der Dichterin wird zum Grundmodell eines Endspiels von Musiktheater und Oper. Jede Erzählstruktur ist dabei fragmentiert, die Protagonisten bleiben in ihren eigenen Erzählungen gefangen. Es finden keine Dialoge statt. Wie in verschiedenen Erzählebenen verlorener Mythen wird die eigentliche Geschichte in verschiedenen Lesarten und Spiegelungen des Simultan- Ungleichzeitigen aufgehoben.
Die Qualität der Stimme selbst wird zum Thema. Sie wird instrumental gefärbt, instrumental verzerrt oder durch das Orchester reproduziert. Die Szene I basiert auf einem von mir selbst gesprochenen Text von Händl Klaus, den ich elektronisch analysiert und anschließend orchestral rekonstruiert habe. Während in der ersten Szene das „sprechende“ Orchester von einem Schauspieler verdoppelt wird, der denselben Text spricht, „spricht“ in der Szene VII das Orchester den gleichen Text allein – wie eine Spur im Sand. Hier erscheint der altägyptische Text: Papyrus 3024, „Der Tod steht vor mir, wie ...“
Die Stimme findet ihre Resonanz im Orchesterklang, überlagert bis zur Unverständlichkeit, chorische Bündelung der Stimmen, Verräumlichung der Stimmen. Der Klang des Orchesters setzt die Stimme fort. Es handelt sich hier um eine diskontinuierliche Erzählung, jede Figur bleibt in ihrer Geschichte gefangen. Spuren von Gesten, bereits Geschehenes ordnet sich zu einem Ganzen. Ein aus dem Gedächtnis transkribierter und orchestral rekonstruierter Gesang eines Imams unterbricht wie ein Schrei die Szene I. Die abwesende Stimme.
Es ist ein Theater jenseits von Handlung, von Stimmen im Raum.
Die Text-Maschine: La bianca notte
La bianca notte ist die Umkehrung von FAMA. Der Gesang bewegt sich auf unterschiedlichen Stufen der Stilisierung, vom sprechenden zum instrumentalen, vom kreatürlichen Laut zum Schrei, vom Rufen zum rezitativischen parlare cantando, durch verschiedene orchestrale Räume. Das Orchester färbt die Stimme oder die Stimme ist in eine orchestrale Struktur montiert, die kontinuierlich transformiert wird, vom harmonischen zum metallischen, vom instrumentalen Klang zum Schrei.
La bianca notte, Reinschrift. Der erste Einsatz des Soprans
La bianca notte ist eine Wanderung durch die nächtliche Stadt. Die geschäftige Vernunft schläft, es sind Schreie, Geflüster, Wortfetzen und die Geräusche des Hafens, das Quietschen der Maste und der Ketten der Schiffe, das Schlagen der Wellen an die Kaimauer zu hören. Daraus entstehen Phantasmagorien, Bilder und Geschichten.
Der Protagonist durchquert in einer Nacht die Stadt und wird wie im Traum in verschiedene Zeitlichkeiten geworfen. Die ganze Szene gleicht einem kubistischen Tableau. Er begegnet realen und vergangenen Figuren. In einer kaleidoskopartigen Form werden Dialoge montiert. Es handelt sich nicht um Frage und Antwort, jeder bleibt in seiner Erzählung, seinem Text. Auch Soli werden als Dialoge mit sich selbst so montiert, dass auch im Monolog eine Spaltung der (Klang-)Räume entsteht. Es ist, als würden die Protagonisten sich über Abgründe zurufen.
Um Dino gruppieren sich Regolo und il russo und zwei weibliche Stimmen, Sibilla und Indovina (die Wahrsagerin). Während Indovina aus einer anderen Zeit kommt, gleichsam aus einer italienischen Oper gestohlen, und eine stille Beobachterin des Geschehens ist, flüchtet sich Sibilla, in einer „amour fou“ zu Dino entflammt, mit ihm in die Phantasmagorien scheinbarer Gleichzeitigkeit. Die Liebe scheitert kurz nach ihrer Begegnung in Szene 8. Ein Traum, der im Zusammenfallen beider Textebenen durch sich ergänzende Stimmen zur Darstellung kommt.
Regolo hingegen verkörpert den mephistophelischen Gegenpart. Er kommt aus demselben Dunkel wie Indovina. Regolo führt Dino in dieser Nacht ins Armenhaus. Sie begegnen hier dem Dichter und Violinisten il russo, der die physiognomischen Züge Dinos trägt. Dino ist (als il russo) mit seinem eigenen Scheitern, seinem eigenen Ende, konfrontiert.
Dinos letzte Worte: „Io non vivo, vivo in uno stato di suggestione continua.“
Bleibt die Nacht: erscheinend als utopischer Raum, U-Topos der anderen Möglichkeiten, ebenso wie als Zone des Wahnsinns und jeglicher Ausweglosigkeit. Die Nacht, das Verschwinden der festen Umrisse und Konturen, ist Thema und Ausgangspunkt der musikdramatischen Erzählung. Aus der Dunkelheit werden erst allmählich Figuren und deren Geschichten erkennbar. Wie in FAMA, deren Haus am horizontlosen Horizont verschlossen erschien, so verschließt sich hier, in La bianca notte, das Dunkel der Nacht zwischen Folie und follia (Wahnsinn) zum parabolischen Ende der Erzählung.
La bianca notte könnte somit auch als Kritik an den dunklen Seiten der Moderne gelesen werden, worin das Individuum zum Outsider gemacht wird, der Künstler zum Außenseiter der Gesellschaft umfunktioniert und zum funktionalen Anhängsel der Universal-Maschine der Blödigkeit wird: Alles gehorcht den Gesetzen einer schrecklichen Dialektik der Aufklärung. Zuletzt jedenfalls ist Dino nicht mehr jener Dichter Dino Campana, der zwischen den Zeiten ein erfülltes Leben in der Liebe und als Künstler versucht hat. Er ist ein völlig identitätsloser Anonymus, der erkennen muss, dass diese Gesellschaft keinen Platz mehr für ihn hat, dass seine Liebe zu Sibilla scheitern muss und dass der Beweis der Existenz seines Selbst, den er als Schreibender führt, auf der Suche nach sich selbst, nach jenen inneren Stimmen, die einer anderen Wirklichkeit Ausdruck verleihen, scheitert. Am Schluss verliert er seinen Namen – es herrscht nur noch Namenlosigkeit: totaler Verlust von Identität: „Io mi chiamo Dino e come Dino mi chiamo Edison ... Sono una stazione telegrafica ...“ Und dann: „Io non vivo, vivo in uno stato di suggestione continua.“
Ich habe versucht, mich anhand dreier Beispiele einer Idee von Oper zu nähern. Oper als Zusammenspiel von Klang, Text, Bühnenbild und sich bewegenden Körpern der Darsteller. Anders gefragt: Unter welchen Bedingungen entstehen jene Momente, die wir Theater nennen? Was sind diese geheimeren Momente eines subtilen (Un-)Gleichgewichts zwischen den Protagonisten, wie entstehen diese besonderen Augenblicke eines ambiguen, sich im Unbekannten dann doch ergänzenden Raums? In den Zwischenräumen der Imagination schwebender Begegnungen. Was macht es denn wirklich aus: dieses unwillkürliche Aufscheinen einer anderen, möglichen Welt hinter den Dingen?
Ich versuche vorläufig einmal, dieses Bild zu übertragen in die kompositorische Spiegelschrift des Lebendigen. Wesentlich scheint mir, dass sich dem Zuhörer immer wieder neue Wege durch die Erzählung erschließen. Oper als offene Kunstform, als Kunstform ins Offene.
Es ist evident, dass etwa in FAMA, wenn die Protagonistin vom Glas zwischen ihr und ihrem Spiegelbild spricht (Szene 6), der instrumentale Klang zur materiellen Präsenz des Glases wird. Spricht sie von ihrer „ganz anderen Stimme“, so wird der Klang der Kontrabassflöte zur „anderen Stimme“; spricht sie vom Glitzern des Wassers auf dem See (Szene 5), werden die Whistle-Töne der Flöten und das hohe Akkordeon als Licht imaginiert. Bei ihren Worten „Wer spielt denn da unten so schön Klavier?“ tut sich jener imaginäre Abgrund auf, den ich meine. Es ist das Gegenteil einer illustrativen Verdopplung, der expressive Gehalt erscheint sozusagen auf der Rückseite der Komposition. Klang wird zur physischen Präsenz – physische Präsenz zu Klang. Immer wird erzählt. Aber wie? Diese Frage stellt sich mir von Stück zu Stück immer wieder aufs Neue.
Publikation
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