Zeitbegriff

NummerTitelVerfasser:innenKategorieVeröffentlichungsdatum
1Raum der SchöpfungFilm
2Eine WanderungFilm
3Über Kanten fließen – Zur Bedeutung der Literatur und des Kaleidoskopischen in Beat Furrers MusikAndreas KarlText
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Beat Furrer und sein Zeitbegriff

Zeit ist der Strom, in dem Schaffen stattfindet. Sie hat für jeden einzelnen Menschen eine individuelle Struktur und findet sich als Raster in allem Geschaffenen wieder.

Film

Raum der Schöpfung

Wir haben in der „Komponierstube“ an seinem Wohnort im steirischen Gesäuse jeweils immer dieselben Zeitfenster im Laufe eines Tages und über einen längeren Zeitraum hinweg festgehalten. Der Komponist als Anwesender und als Abwesender. Die Zeit verstreicht, die Partitur ruft, reift, wird fortgeschrieben. Mit diesem Zeitrasterdokument nimmt man teil am Verstreichen der Zeit im Akt der Schöpfung zeitloser Werke.

Film

Eine Wanderung

Beinahe täglich ist das Komponieren von langen, emporziehenden Wanderungen zügigen Schrittes begleitet. Ein kommentarloses, ungeschnittenes Dokument bewegten Bildes zeigt Furrer im Gehen: seine Blicke, sein Schritt, sein Atmen.

Text

Über Kanten fließen.

Zur Bedeutung der Literatur und des Kaleidoskopischen in Beat Furrers Musik.

Andreas Karl

Über Stoffe und Entwicklungen in Beat Furrers Musik zu schreiben ist, als ob man ein im Entstehen begriffenes Flussdelta kartographieren wollte. Seine Entwicklungsströme mäandern, nehmen Zuflüsse auf, schichten Sedimente, gabeln sich und finden stets neue Fortführung. Musik lässt Furrer nur dann los, wenn sie reich an Substanz und Potenzial ist, sie also die Möglichkeit zu weiteren, anderen Fortführungen spürbar in sich trägt. So wie die verästelten Seitenarme eines Deltas sich ihren Ursprung teilen, so teilen sich seine Stücke zuweilen musikalisches Ausgangsmaterial, literarische Textvorlagen oder formale Schnittmuster. Selbst in der grundverschiedenen Klanglichkeit und der historischen Distanz, die zwischen dem ältesten und dem jüngsten Werk dieser Jubiläumsbox, dem Klaviertrio Retour an Dich aus dem Jahr 1986 und dem Konzert für Violine und Orchester aus dem Jahr 2020, liegen, lassen sich solche Verwandtschaften nachweisen. In beiden sucht der Instrumentalklang tastend nach vokalen Qualitäten. Im ersteren nach einem Schrei, im letzteren nach einem sprechenden Ton. Dabei werden unterschiedliche Materialschichten ineinander geschnitten oder überlappen einander. Am Ende steht jeweils eine Geste ins Offene: Die letzten Linien von Retour an Dich streben suchend in ein Terrain, das über das Ende der Musik hinausreicht. Und die Melodie des Konzerts für Violine und Orchester, die sich in den ersten beiden Sätzen aus dem Klangfluss des Orchesters gelöst hat, legt im dritten Finalsatz, in ihrer eigenen individuellen Sprache, die Geschichte ihrer Entstehung offen. In beiden Stücken werden instabile Spannungsfelder permanent moduliert und mit jedem Schnitt tun sich multiple, imaginäre Fortsetzungen auf. Ihr Zustand des Entstehens findet keinen finalen Abschluss.

Der Hauptstrom des Deltas entspringt im Wien der frühen 1980er Jahre. Dort traf Furrer auf die offenen Mobile-Formen seines Kompositionslehrers Roman Haubenstock-Ramati. Dieser schuf Partituren, in denen die Interpret:innen grafisch voneinander abgesetzte Module, gewissen Regeln folgend, frei miteinander kombinieren konnten. Mit jeder Aufführung trafen die unterschiedlichen Tempi, Metren und Farben dieser Module in jeweils neuen Konstellationen aufeinander. Es entstand eine Musik, deren kreisende, abtastende Form das Potenzial des Materials ausschöpfte, indem sie sich ein Stück weit der Kontrolle des Komponisten entzog. Der Ausdruck dieser Musik war spontan und kontingent. Auch Furrer fand in diesem Formverständnis seinen spezifischen Ausdruck. In seinen frühen Werken treffen unabhängige Stimmen auf synchron pulsierende Ensembles. Es ergaben sich ephemere Figuren von somatischer Qualität – sie schrecken auf, fallen in sich zusammen, greifen nach etwas, zucken oder halten inne. Furrer begann diesen Figuren im Konzert und den Proben nachzuhören, sie auszunotieren und sich zu eigen zu machen. Sie sind zu jenen fragilen Übergängen und körpernahen Klanggesten geworden, die Furrers Musik heute so überraschend lebendig und menschlich machen.

Eines der ersten Stücke, in denen er alle Stimmen einheitlich durch Metronomangaben synchronisiert hat, ist Gaspra aus dem Jahr 1988. Es markiert den Übergang zu den zielgerichteten, kontinuierlichen Klang- und Sprachmetamorphosen, die bald darauf ganze Stücke und Opern durchwachsen sollten.

Der Mobile-Strom erhielt über die Jahre hinweg regen Zufluss von den retrograden Erzählstrukturen avancierter Kriminalgeschichten, kubistischen Schnittmodellen, dem kreisenden Festhalten schwindender Erinnerungen, sehnsuchtsvollen Spiralbewegungen, palimpsestartigen Freilegungen und Filtern oder den alternierend atmenden Melodien von Inkamusiken. In zahlreichen Seitenarmen nahmen diese formalen Ideen, teils miteinander kombiniert, die Gestalt von neuen Stücken an. Dabei kristallisierte sich ab linea dell’orizzonte (2012) und den folgenden Stücken ein formales Prinzip heraus, in dem reduziertes, für sich bereits entwickeltes Material, in immer neuen Konstellationen ineinander geschnitten wird. Um dies bildlich zu verdeutlichen, stelle man sich ein Kaleidoskop vor, das mal schnell, mal langsam, mal nach links und mal nach rechts gedreht wird und dabei über sanfte oder grelle Lichtquellen gleitet. Muster durchdringen so einander oder werden ruckartig zerschnitten. Bringt man diese momenthaften Zustände und Bewegungen in eine zeitliche Abfolge, tun sich Kontraste, Beziehungen und Variationen auf; kurze Phrasen und große Bögen formen sich, Assoziationen springen – eine Dramaturgie entsteht. Während in den Kaleidoskopen unserer Kindheit bunte Farbbildchen durch Spiegelreflexion zu jenen Mustern werden, sind es bei Furrer musikalische Ideen: auf- und absteigende Linien, mikrotonale choralartige Akkorde, rhythmisch pulsierende Schwebungen oder eine gesungene Melodie. Sie alle werden zunächst linear entwickelt, je ihrem eigenen Tempo, ihrer Metrik und ihrem Fluss folgend. Danach bewegt Furrer seine Musik zwischen den Materialschichten hin und her. Er schneidet diese in Keile, dreht sie, liest sie von hinten nach vorne, dehnt und staucht sie, kombiniert sie. In mehreren Durchgängen bewegt er sich über sein Ausgangsmaterial und schafft kontrastreiche und doch einander verwandte Sequenzen, so als ob er fragmentierte Erinnerungen zu einer neuen Erzählung zusammensetzen würde. Ganz diverses Material wächst in dieser Weise zu einem Stück, dass die jeweiligen Identitäten des Ausgangsmaterials nicht im Ganzen auflöst, sondern pluralistisch bleibt – ein Sinnbild für Furrers künstlerisches Arbeiten.

Der wichtigste Zufluss zu jenem kaleidoskopisch gewordenen Hauptstrom ist die Literatur. Für die Stücke dieser Jubiläumsbox sind dies Gedichte, Briefe, Romane, Hörspiele, Mythen und Prophezeiungen von James Joyce, Marguerite Duras, Hermann Broch, Günter Eich, Cesare Pavese, Dino Campana, Sibilla Aleramo, Juan de la Cruz, Francesco Petrarca, Händl Klaus, Leta Semadeni, Lukrez, Ovid und Vergil. Ihre Worte werden gesungen, gesprochen, geflüstert oder pausiert, ihre Phoneme und Prosodie von Instrumenten imitiert oder von fremden Resonanzkörpern moduliert.

Furrers Kunst ist es, musikalische Form und sprachlichen Inhalt derart zu verbinden, dass sie einander bedingen und substituieren, einander fortsetzen und Orte betreten, die für die Musik und für die Sprache als isolierte Künste nicht erreichbar wären. Seine formalen Schnitte und Schichten schaffen einen Raum, in dem Wortklang, Wortbedeutung und instrumentaler Klang einander erweitern. So werden in invocation VI (2003) Juan de la Cruz’ Fragen nach dem ‚Warum‘ durch die drängende Flöte, deren Flatterzunge, Klappengeräusche und hektisches Atmen zu verzweifeltem Insistieren und erotischem Tasten zugleich. In Spazio immergente III (2019) sind es Lukrez’ Beschreibungen des Weltendes, die durch metallisch gleißende Streicher und eine Posaune, die spricht, als wäre sie an den Grenzen ihres Verstandes angekommen, zu einer unheimlichen Prophezeiung werden. In Xenos III (2010/2013) umgibt das Instrumentalensemble die Worte von Händl Klaus mit dem intimen Tonfall eines Sprechens, das die assoziativen Bewegungen des Textes an sich selbst nachvollzogen hat.

In diesen semantisch geladenen Klangräumen setzt Furrer Abstraktion und Stilisierung derart ein, dass wir die Empfindungen seiner Protagonist:innen ästhetisch vermittelt und unmittelbar körperlich zugleich erleben. Hierzu holt er aus der Tiefe der Psyche einen vorsprachlichen Ausdruck und bringt ihn mit den Mitteln der Musik in die Sprache zurück. Worte zerfallen dabei in ihre Phoneme, werden von Stimmen und Instrumenten neu zusammengesetzt und mehrstimmig intoniert. Durch deren analytische Verklanglichung gibt Furrer die Absicht der Worte preis. Dies verführt zu einem taktil-mimetischen Hören – einem empathischen Vorgang.

Im dritten Stück von in mia vita da vuolp (2019) wird das Empfinden der tierischen Ich-Erzähler:innen dem unseren nahe gebracht. In das Saxofon gehauchte Phoneme modulieren raue Flatterzungen-Texturen, die wie verletzte Haut und klirrende Kälte zugleich erscheinen. In einem fast kindlichen Identifikationsprozess spüren wir assoziativ die Aufregung des Tieres und seinen Schmerz ob der Kälte des Winters. Nie aber verlieren diese Klänge ihre musikalischen Qualitäten zugunsten lautmalerischer Illustration. Ihre abstrakte Natur lässt sie Klang und empfindsame Chiffre zugleich sein.

Furrers Musik, mit all ihren vergabelten Seitenarmen, wird von einer Mündung angezogen, die wie die Linien am Ende von Retour an Dich stets jenseits des zuletzt geschrieben Taktes liegt. In dieser asymptotischen Bewegung, die das Delta immer weiter ausdifferenziert, ohne es enden zu lassen, spitzt sich der sehnsuchtsvolle Sog, der Furrers Musik auszeichnet, weiter zu. Kleinste, kontinuierlich aufsteigende Intervalle, flirrende Schwebungen und emphatische Crescendos ziehen in La bianca notte (2013), intorno al bianco (2016) oder dem Klarinettenkonzert (2019) an der Musik und an uns Hörenden. Mit jedem Stück nähert sich Furrer der Mündung, die sich zu den vielfältigen Erscheinungen eines möglichen Anderen hin öffnet, auf das die klanglichen Erweiterungen der prophetischen und intimen Texte verweisen, die seiner Musik zugrunde liegen.

3 Filme

Bei einer Wanderung im Gesäuse oder in Furrers „Komponierstube“ können wir dem Strom der Zeit seines Denkens und Schaffens folgen. Gemeinsam mit dem Film „Ein Gespräch“, den Sie auf dieser Website in der Rubrik „Sprechen“ finden, sind die 3 Filme auch als Teil der Medienbox FURRER 70 erhältlich. Bestellen Sie jetzt ein ihr persönliches Exemplar!

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Publikation

Die Essays und einführenden Texte finden sich als Teil der FURRER 70 Medienbox im Buch „Werk“ wieder. Sie tauchen tief in die Klanglandschaft der ausgewählten Kompositionen ein. Bestellen Sie jetzt diese limitierte Edition, welche das Klangforum Wien anlässlich des 70. Geburtstags von Beat Furrer gestaltet hat!

Publikation „Das Werk“

FURRER 70 Box

FURRER 70 Medienbox
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